Der Notiz-Blog, der sich gewaschen hat

Monat: Februar 2022

Literarische Drehmomente – Über Sasha Filipenkos Roman „Der ehemalige Sohn“

Wenn in einem Roman ein Lebenslauf mit Zeitläuften (warum heißt es eigentlich nicht „Zeitläufe“ ohne diese merkwürdige „t“?) gewissermaßen verknotet wird,  dann gibt es sofort einen doppelten Boden. Das Schicksal eines Individuums wird mit dem Schicksal einer ganzen Gesellschaft in einer Parallelschau literarisch verarbeitet. Franzisk Lukitsch ist die Hauptfigur des Romans Der ehemalige Sohn von Sasha Filipenko, der letztes Jahr endlich auf Deutsch bei Diogenes erschienen ist; die Originalausgabe stammt aus dem Jahr 2014. Sein Lebenslauf wird durch zehn Jahre lang quasi angehalten: Er fällt nämlich  an einem Rockkonzertabend bei einer Massenpanik in einer U-Bahnunterführung ins Koma. Vorher – bis 1999 – genoss er in Minsk am Staatlichen Lyzeum für Künste eine Celloausbildung, danach – ab 2009 – kann er immerhin als Verkäufer von „Sanitärkeramik“ arbeiten, auch wenn er in seinem Leben etwas anderes vorhatte, als seinen Arbeitsplatz zwischen „Mischmaschinen, Waschbecken und Klomuscheln“ einzunehmen.

Anders als seine ihm fremd gewordene Mutter und sein Stiefvater, der als behandelnder Chefarzt sich wenig fürsorglich verhält, ist seine Großmutter ihm rührend zugeneigt. Die meisten Erzählungen am Krankenbett entführen den Leser in eine Welt, die gewisse Werte transportiert.  Als Übersetzerin ist sie nicht nur sprachmächtig, sondern vermittelt auch zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart. Tragischerweise verstirbt die „Babuschka“ drei Tage, bevor Franzisk aus dem Koma erwacht. Immerhin hinterlässt sie ihm neben Geld auch Kontaktlisten, so dass sie ihm auch nach ihrem Tod behilflich sein kann. Aus Dankbarkeit und einer gewissen Ehrfurcht besucht der genesene Enkel oft ihr Grab, um den Dialog zwischen Diesseits und Jenseits fortzuführen.  Da Franzisk auch Gasteltern in Deutschland hat und deswegen leichter als andere an ein Visum kommt, endet das Buch recht beschwingt mit einem Celloauftritt in einer deutschen „Hafenstadt, auf einer Straße nur ein paar Schritte vom Rathaus entfernt“.

Jene von Franzisk als deutsche Mama und deutschen Papa bezeichneten Gasteltern – Jürgen und Claudia – wurden in den  1990er Jahren nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl vermittelt, jedoch weniger aus humanitären, sondern vielmehr aus kommerziellen Interessen. Damals wurden für Kinder und Jugendliche „Gesundheitsferien“ im „Gesundheitsbusiness“ für mehrere Hundert Dollar verkauft, ein Vermögen für die meisten Weißrussen. Ohne Dolmetscher kann sich das Ehepaar bei ihrem zweiwöchigen (Kranken-)Besuch nicht verständigen, so dass Franzisks Großmutter ihre teils ungeschickten Äußerungen nur gefiltert aufnehmen kann. Leicht klischeehaft wird vor Ort aus deutscher Perspektive von Jürgen „die schlechte Laune“ vieler Leute und von Claudia fehlende „gute Putzmittel“ bemängelt – ein No-Go in einer ihr vertrauten „Kultur des Wäschewaschens“.  Teils aus Fürsorge, teils aus Eigennutz wird Franzisk von Jürgen als „sein Kind“ angesehen, was nicht unbedingt die Verständigung  zwischen zwei Familien fördert.  Dass humanitäre Prinzipien auch heute weniger eine Rolle spielen, macht der Autor sehr deutlich. Denn nach dem Erwachen aus dem Koma hat sich für Weißrussland wenig verändert. Franzisks Freund Stassik meint sicher zurecht:

Für die Europäer sind wir Menschen zweiter Klasse aus einem Dritte-Welt-Land. Alle sagen immer nur, man müsse uns helfen, die Tür aufmachen, wir seien so wie sie, würden uns durch nichts unterscheiden, aber sobald es um das Thema Visum geht – ziehen sie zwischen uns eine riesige Panzerglasscheibe hoch.

Ungezügelte Privatwirtschaft auf der einen Seite, mentale und politische Mauern auf der anderen Seite machen die zeitgeschichtliche Ebene als Konstanten seit Mitte der 90er Jahre aus. Vor dem Fall ins Koma wird ein Rückfall in den pränatalen Zustand beschrieben, der eben nicht nur auf Franzisk zutrifft, sondern sinnbildlich auch auf den Zustand von Belarus um die Jahrtausendwende herum:

Wie ein Baby im Mutterleib drehte es ihn wieder und wieder. Er wusste nicht mehr, wo der Boden war und wo die Decke; eine unsichtbare Nabelschnur, Rettung oder Untergang, zog ihn weiter.

Handelt es sich hier um den unkontrolliert erlebten Fall ins Unbewusste, beobachtet Franzisk in seinem Badezimmer ganz bewusst einen weiteren, deutlich längeren Drehmoment am denkwürdigen Präsidentschaftswahlabend 2010:

Während Tränen über sein Gesicht strömten, sah er zu, wie Kleidungsstücke übereinanderpurzelten und -wirbelten. Wie vorhin der nasse Schnee die Stadt füllte Schaum die Trommel an. Das runde Glas beschlug, die Maschine nahm Schwung auf und wackelte. Dann blieb sie plötzlich stehen, die Jeans und der Sweater plumpsten auf den Boden der metallenen Trommel wie auf nasse Stufen, und die Trommel dreht sich in die andere Richtung. Sensoren sorgten für die richtige Temperatur, während Franzisk die Temperatur seiner Tränen nicht steuern konnte. Die Maschine pumpte nun die Lauge ab, und der Schleudergang setzte ein. Zisk sah zu, die die nassen Kleider an die Wände gepresst wurden. Er dachte daran, dass er an diesem Tag zum Verräter geworden war und das nie mehr würde abwaschen können.

Das Davonrennen als Demonstrant gegen die herrschende Staatsgewalt, um einer Festnahme zu entgehen, bildet für den Romanhelden einen Makel. Die Kraft der politischen Bewegung kann dem Schleudergang der machtvolleren Staatsmaschine nicht standhalten.  Der Oppositionelle mag sich daher wie ein Kleidungsstück fühlen, dass im schlechten Sinne gesäubert wird, nämlich von jeglichen Bestrebungen, an Umsturzversuchen festzuhalten. Doch die Bevölkerung ließ sich nicht einschüchtern. Bei den Präsidentschaftswahlen 2006, 2010 und 2020 wuchsen die Protestaktionen an, wenn man unabhängigen Quellen glaubt: Sollen es in Minsk etwa 10000 Demonstranten im Jahr 2006 gewesen sein, gingen angeblich vier Jahre später ca. 20000 und 2020 mindestens 100000 Menschen auf die Straße.

Dass „Musik die beste Methode zur Rettung“ für Franzisk ist, stimmt am Ende versöhnlich. Im Notensystem geht es geordnet zu; dort finden keine Revolutionen statt. Am Ende haben die Töne die Sagen – mit oder ohne Worte.

Hier geht es zu einer Leseprobe auf die Homepage des Diogenes-Verlages. Die Übersetzerin hat in einem Nachwort noch einige wissenswerte Anmerkungen gemacht. Nur eine Notiz daraus: Der Name des Protagonisten „geht auf den ‚ersten belarussischen Buchdrucker’ zurück, den Universalgelehrten Francysk Lukitsch Skaryna“. Die Neue Zürcher Zeitung bietet noch einige interessante Details zum weißrussischen Autoren, der seit vielen Jahren in Sankt Petersburg lebt.

Ansichtssache: Über das Gemälde “Ländliche Idylle” von Volker Böhringer

Ende November 2021 besuchte ich endlich mal wieder das Städel-Museum in Frankfurt am Main.  Die hochkarätige Dauerausstellung wurde in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich erweitert. Ein Gemälde fiel mir besonders auf, das im Jahre 2009 erworben wurde: Es ist die Ländliche Idylle (1935) von Volker Böhringer (1912-1961). Bedauerlicherweise ist Böhringer laut dem Städel-Museum „nur noch Spezialisten ein Begriff“ und bekam erst ein Jahr vor seinem Tod eine Einzelausstellung zugesprochen, wie man der Wikipedia entnehmen kann. Insofern lohnt sich ein genauer Blick auf dieses besondere Kunstwerk:

Volker Böhringer: "Ländliche Idylle"
Volker Böhringer: “Ländliche Idylle”, Tempera auf Öl auf Pappe, 1935; Städel Museum, Frankfurt am Main, Eigentum des Städelschen Museums-Vereins e.V.

Als ich am 04.01.2022 vom Kloster Engelberg aus eine vergleichbare, leider in Regenwolken gehüllte Landschaftsformation in Churfranken betrachtete, nämlich das Maintal bei Miltenberg, hat sich das Gemälde noch stärker in meiner inneren Anschauung einen Platz verschafft. Die im Bild gezeigte Idylle ist sicher nicht romantisiert, wie es die klassische Idylle vermag, und gerade deswegen ist es für mich so nahbar. Böhringer hat seine Heimat als urbar gemachte Kulturlandschaft – das Neckartal bei Esslingen – auf eine ganz besondere Weise eingefangen. Sie berührt mich wohl deswegen, weil hier keine unberührte Natur  auf mich einwirkt. Das gesamte Hügelland scheint vom Menschen heimgesucht, wobei Heimsuchung hier auf keine Katastrophen hindeutet, sondern auf den Versuch, in klaren Strukturen sich Flächen verfügbar zu machen und nichts dem Lauf der Dinge zu überlassen. Mir fällt hierzu das Stichwort „Landnahme“ ein. Selbst der blühende Boden scheint zweckgebunden, und sei es nur aus dem Grund, sich bewusst an der Schönheit der Blüten in einem definierten Bereich erfreuen zu wollen.

Die für mich sonderbare Verschmelzung zwischen surrealistischem und expressionistischem Stil lässt sich an zwei verschiedenen Blautönen festmachen: Der Himmel erinnert mich mit den rätselhaft geformten Wolken an Salvador Dalís Werk, während die dreieckigen tiefblauen Dachfensterseiten die Formsprache eines Karl Schmidt-Rottluff geradezu zitieren. Der Körperkontakt zwischen der jungen Frau mit nur angedeutetem Profil und dem verfremdet dargestellten (Nutz-) Tier – vermutlich eine Ziege – weist auf ein stillschweigendes Verständnis  im gegenseitigen Umgang hin. Diese dargestellte Harmonie lässt mich in meinem Kopf Bilder weiterer Künstler, insbesondere von Franz Marc und August Macke abrufen.

Aus einem Bruch mit dem Entstehungsjahr im Nenner und dem Buchstaben
„b“ (wahrscheinlich für „Böhringer“) im Zähler die Wurzel ziehen zu wollen ironisiert das seriöse Datieren eines Kunstwerks. Es lässt an eine vollkommen andere Zahl denken, die eben keine Zeitkonnotation mehr hätte. Der mathematisch unbestimmbare Wert ist auf einer Zeitungsseite mit dem Titel „Bote“ abgedruckt, woraus sich eine nicht zu entschlüsselnde Botschaft ergibt.

Was mich an diesem Gelände fasziniert ist das Nebeneinander von Ort und Raum.  Die Betrachterposition nimmt mehrere Dimensionen in den Blick, die auf Bewegung hinweisen. Explizit nehme ich im Bild rechtsunten Linien sowie ein Signal wahr, die mich an eine (Fahr-)Bahn denken lassen. Es herrscht deswegen keine Starre, sondern eher eine mitgedachte Dynamik in der Ruhe vor, die auf großes künstlerisches Können hinweist. Die Kombination aus milden und kräftigen Farben unterstützt diesen Gesamteindruck.

Die linke Seite des Gemäldes enthält Utensilien und Konstruktionen, die auf tradierte Praktiken hinweisen. Ihre Anordnung verrät eine gewisse Unstimmigkeit, so als ob sie ausgedient hätten. Auffallend ist, wie detailtreu die verwendeten Materialien mit ihren Strukturen gezeichnet sind. Hier werden Stilpraktiken  aus längst verflossenen Zeiten eingebracht. „Ave Maria“ können wir an einem Bildstock lesen, der mächtig gen Himmel ragt, während der Fabrikschlot perspektivisch keine besonders luftige Höhe erreicht. Althergebrachtes und Neuartiges stoßen in der Idylle aufeinander, thematisch und strukturell: In der Zusammenschau entsteht hier auf den Betrachter der Eindruck einer Disharmonie, wodurch der Begriff „Idylle“ subtil hinterfragt wird.

Ländliche Idylle belegt, wie sehr die Sinne geschärft für alte und neue Zusammenhänge geschaffen werden, die im Betrachter selbst entstehen. Eine Einladung, seinem eigenen Bildgedächtnis habhaft zu werden und es neu zu vergegenwärtigen.

In sehr guter Bildauflösung lässt sich die Ländliche Idylle noch einmal über die Digitale Sammlung des Städelmuseums betrachten. Die Galerie Valentien bietet digital weitere Gemälde von Volker Böhringer zur Ansicht an.

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