Wenn ein französischer Chansonnier ein Album mit dem Titel Kensington Square herausbringt, dann ahnt man, dass in dieser Musik gleich mehrere Grenzen überschritten werden. Und doch war in Deutschland von diesem Album so gut wie nicht die Rede – zumindest findet man im Internet keine Rezension. Vielleicht liegt es auch daran, dass 2004 – zum Zeitpunkt der Veröffentlichung – das Internet noch nicht so dominant war wie heute.  Das Album stammt von Vincent Delerm, dessen Stimme niemals berühmt werden wird. Das Gesäusel ist für manche eine Zumutung, und doch passt es wunderbar, wenn man die süffisant-ironischen Texte heranzieht. Zwei Zweizeiler seien hier einmal zitiert:

„J’aimerais tenir les coupables / les auteurs de ce plan de table.“

und

„C’est le soir où près du métro / Nous avons croisé Patrick Modiano.”

Der erste Reim stammt aus dem Lied Anita Petersen, wo es um die Fragwürdigkeit mancher Tischordnungen geht: Wer wo sitzt, ist oft kein leichtes Gedankenspiel. Und für den betroffenen Gast ebenso wenig: Warum setzt man das Sänger-Ich auf einer Hochzeitsfeier neben eine (wohl fiktive) Norwegerin namens Anita Petersen, mit der man nur (kuriose) Gesprächsinhalte teilt? Die Frage muss nicht beantwortet werden – sie amüsiert eigentlich nur, und das genügt.

Im Lied Le baiser Modiano geht es um ein Date, das durch die mysteriöse Gegenwart des späteren Literaturnobelpreisträgers Patrick Modiano überschattet wird. Zum Schluss wird der Kuss mit dem Schriftsteller in Verbindung gebracht – er wird schlichtweg Modiano-Kuss genannt.

Vincent Delerm schafft es, konkrete Situationen zu verzerren und damit einen neuen Blick auf Erlebtes zu werfen. Er ist einfühlsam und zugleich humorvoll-distanziert. Ob es im deutschsprachigen Raum etwas Ähnliches gibt? Ein Liedermacher ohne Starallüren ist hier kaum salonfähig; Comedians oder Kabarettisten haben es sicher leichter sich zu behaupten.   

Im Internet gibt es ohne Bezahlschranke kaum brauchbare Belege, die Delerms Gesangskunst zeigen. Liegt es nur am Copyright oder auch daran, dass seine Musik nicht massentauglich bebildert werden kann, obwohl sie jede Geschichte in eine Szenerie verpackt? Federleicht ist sie gewiss, voller Esprit und Ironie. Niemals Klangteppich, sondern Klangtupfer. Ein akustisches Zeugnis von Understatement – eben keine Parolen. Unverwechselbar und doch ohne Klischees. Vincent Delerm darf in keiner Chanson-Musikliste fehlen. Und erst nachdem ich diesen Satz mit dem Schlüsselwort „Chanson“ geschrieben habe, fällt mir ein, dass ich im Titel von „Die Chanson“ sprechen muss, analog zu „La Chanson“.  Auch das gebietet die Originaltreue.

Vincent Delerm: Kensington Square, Tôt ou Tard, 2004.

Vincent Delerms sämtliche Alben sind hier erhältlich.